Epikie
(griech. epieikeia: Billigkeit), in der weiteren Bedeutung eine allgemeine Würde, die man einem Menschen zuschreiben kann. Im Anschluss an Platons Kritik des geschriebenen Gesetzes verwendet Aristoteles den Begriff der E. im engeren Sinn zur Bezeichnung der Fähigkeit, die Allgemeinheit fixierter Normen und Gesetze angesichts von Einzelfällen zu korrigieren. E. bedeutet »eine Berichtigung des Gesetzes, wo es aufgrund seiner Allgemeinheit mangelhaft ist« (Aristoteles: Eth. Nic. 1137 b 26). Da Gesetze immer nur allgemein formuliert werden können (und müssen), gleichzeitig aber die Grundlage der Beurteilung von Einzelfällen abgeben, bedarf es einer besonderen Instanz zur Lösung der Anwendungsproblematik. E. ist die Fähigkeit, die eine Person haben muss, um auf der Grundlage allgemeiner Gesetze richtig über einzelne Fällen zu urteilen. Aristoteles versteht E. vor allem als Korrektur eines strikten Legalismus, da der billig Urteilende nicht nach dem fixierten Wortlaut des Gesetzes allein entscheiden wird, sondern den Einzelfall mit dem Sinn des Gesetzes in Verbindung zu bringen versucht. Im Sinne einer gerechten (billigen) Beurteilung von Einzelfällen kommt dem Begriff der E. bis heute eine zentrale Stellung in der rechtstheoretischen und philosophischen Debatte zu.
ML
LIT:
- Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1137a311138a3
- E. Michelakis: Platons Lehre von der Anwendung des Gesetzes und der Begriff der Billigkeit bei Aristoteles. Mnchen 1953
- N. Sherman: The Fabric of Character. In: Aristotles Theory of Virtue. Oxford 1989. S. 1328
- G. Virt: Epikie verantwortlicher Umgang mit Normen. Mainz 1983.